30 Jahre Führungsforschung, 25 durchgeführte Interviews, 3 Handlungsempfehlungen für Führungskräfte und 1 Modell für Remote Leadership in der neuen Normalität
Die “neue Normalität” – dieser Begriff geistert seit einigen Wochen durch die Medien. Gemeint sind damit die fundamentalen Veränderungen der Arbeitswelt, die sich durch die Entwicklungen in den letzten Monaten abzeichneten. Noch arbeiten viele Unternehmen fully remote, andere sind schon wieder teilweise ins Büro zurückgekehrt. Es zeichnet sich aber bereits ab: das Thema Remote Work wird bleiben. Viele Unternehmen haben positive Erfahrungen gemacht. Siemens verkündete sogar im Rahmen ihres “New Normal Working Model” in Zukunft dauerhaft stark auf Home Office zu setzen. Wir haben versucht herauszufinden, was das für die Arbeitswelt, HR und speziell für Führungskräfte bedeuten kann.
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Veränderungen der Anforderungen an Führungskräfte
Bereits im April haben wir eine Studie zu den Erfahrungen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern im Home Office durchgeführt. Es wurden 594 Personen zu verschiedenen Aspekten bezüglich der eigenen Erfahrung bei der Arbeit von zu Hause befragt. Die Ergebnisse bestätigten den Eindruck, dass ein Großteil der Befragten verhältnismäßig gut mit dieser Situation zurechtkommt und auch zufrieden mit dieser Arbeitsweise ist. Auffällig war allerdings, dass vor allem Singles und die Gruppe der unter 40-Jährigen von Einsamkeit und Unsicherheit berichteten. Die Ergebnisse zeigen aber auch, dass eine unterstützende Führungskraft diese und andere negativen Emotionen signifikant reduzieren kann. Außerdem konnten durch präskriptive Analysen verschiedene Handlungsempfehlungen für die Führung im Remote-Kontext identifiziert werden, wie beispielsweise klare Regeln und Routinen der Kommunikation.
Diese Erkenntnisse deuten bereits darauf hin, dass sich die Rolle der Führungskraft im Kontext von Remote Work verschieben kann. Nach einigen Monaten von neuen Learnings und wertvollen Erfahrungen mit diesen neuen Arbeitsweisen stellen wir fest, dass das Thema nach wie vor relevant ist. Aus diesem Grund haben wir bei functionHR im Zeitraum von August bis September 2020 eine Reihe von qualitativen Interviews mit 25 (HR-)Führungskräften aus verschiedenen Branchen und Unternehmensgrößen durchgeführt. Ziel war es, herauszufinden, was Führungskräfte in diesem neuen Kontext aktuell beschäftigt, was deren Herausforderungen sind und welche Schritte sie bereits getan haben, um diesen neuen Anforderungen zu begegnen. Die zentralen Erkenntnisse dieser Interviews werden im Folgenden geschildert.
Schwerpunkte der Führungsarbeit verlagern sich
Alle befragten Personen arbeiteten in Organisationen, in denen die Arbeit im Home Office seit einigen Monaten zumindest teilweise zum Alltag gehörte. Je nach Rolle und Kontext beschrieben die Interview-Teilnehmer allgemeine Punkte im Kontext von Remote Work, aber auch spezifische Anforderungen in deren Führungsalltag. Um es vorweg zu nehmen: Viele Punkte aus den Interviews waren wenig überraschend und wurden in Medien, Blogs, etc. bereits diskutiert. Dennoch gab es einige interessante neue Punkte und spannende Erkenntnisse, gerade auch mit Blick darauf, die verschiedenen Aspekte gesammelt und im Licht der wissenschaftlichen Forschung zu betrachten. Insgesamt ließen sich zwei Bereiche identifizieren, die zentrale Herausforderungen darstellten:
Kontakt zu den Mitarbeiter:innen halten:
Das Aufrechterhalten der Beziehung zwischen den Führungskräften und den Personen im Team schien eine der wichtigsten Aufgaben zu sein. Für 84% der Befragten war dies eine der größten Herausforderungen. Der gewohnte Austausch, der bisher durch die physische Nähe und häufigere Interaktion im Büro erleichtert war, musste durch andere Mittel hergestellt werden. Dabei achteten die Befragten vor allem darauf, ob sich die Mitarbeiter:innen eingebunden fühlten und inwiefern ihnen die Selbstorganisation zu Hause gelingt. Auch persönliche Themen waren hierbei wichtig. Der Kontakt wurde genutzt, um sich zu erkundigen an welchen Stellen Handlungsbedarf seitens der Führungskraft besteht. Dabei beschrieben es mehr als zwei Drittel der Führungskräfte als große Herausforderung über Textnachrichten, Telefon oder per Video ein Gespür dafür zu bekommen, welche Bedürfnisse der/die Mitarbeiter:in aktuell hat, wo Unsicherheiten oder Ängste bestehen und ob es möglicherweise andere private Belastungssituationen zu Hause gibt.
Unsicherheiten im Bezug auf Aufgaben:
Eine weitere Herausforderung waren entstehende Unsicherheiten bezüglich der Arbeitsaufgaben der Mitarbeiter:innen (43%). Einerseits äußern einige Führungskräfte aufgrund des fehlenden Überblicks Sorgen darum, ob die gegebenen Arbeitsaufgaben korrekt erfüllt werden und ob die generelle (strategische) Ausrichtung dieser Aufgaben vollends klar ist. Andererseits schildern viele (36%) ebenfalls, dass sie keinen Einblick dahingehend haben, ob bei den Mitarbeiter:innen Unklarheiten oder Unsicherheiten in Bezug auf die eigenen Arbeitsaufgaben aufkommen, die aber nicht geäußert werden.
Betrachtet man diese beiden zentralen Herausforderungen wird klar, dass diese die Schwerpunkte der gewohnten Führungsarbeit verlagern. Statt inhaltlich exzellenter Arbeit liegt der Fokus nun auf Klarheit in der Führung und einem intensiven Austausch mit den Mitarbeiter:innen. Das spiegelt sich im Arbeitsalltag der Führungskräfte wider: Die Befragten berichten mehrheitlich, für diese Aufgaben deutlich mehr Zeit aufzuwenden als zuvor.
Aus 30 Jahren Forschung lernen
Auch die wissenschaftliche Forschung der letzten Jahre beschäftigt sich mit der Frage, wie Führung im Remote Work-Kontext aussehen sollte. Diese Erkenntnisse liefern wertvolle Ansatzpunkte, die in dieser Situation für viele Führungskräfte relevant werden dürften. Hier sind drei zentrale Learnings zusammengefasst:
1 – Lass Strukturen führen
Eine interessante Studie konnte zeigen, dass sogenannte “structural supports” bei der Führung eines Teams helfen können1. In gewissen Bereichen können demnach gemeinsam festgelegte Strukturen an manchen Stellen eine Führungskraft ersetzen, während diese sich auf andere wichtige Dinge fokussieren kann. Dazu gehört, dass das Team einzelne Aufgaben in Form von geteilter Führung selbst übernimmt. So kann das Team gemeinsam aktiv selbstständig nach Verbesserungspotenzialen im eigenen Team suchen. Beispielsweise könnten wöchentliche Team-Meetings in Rotation jeweils von anderen Teammitgliedern mit unterschiedlichen Schwerpunkten moderiert und gestaltet werden.
2 – Vergiss den Wertstrom um das eigene Team herum nicht
Bei einigen Teams, wurde festgestellt, dass der Übergang zu Remote Work besonders von einem Blick nach innen, also auf das eigene Team, geprägt ist2. Dies ist auch verständlich, da die eigene Zusammenarbeit und Kommunikation im Team zunächst geregelt werden muss. Die Gefahr dabei ist, dass der Kontakt zu wichtigen Ansprechpartnern außerhalb des Teams, verloren geht. Diese werden meist nicht so häufig benötigt, jedoch sind sie für die Erfüllung von bestimmten Aufgaben dann essenziell. Die Aufgabe einer Führungskraft kann hier also sein, den Rahmen dafür zu schaffen, auch diese Beziehungen weiterhin aufrecht zu erhalten.
3 – Fülle gefährliche Informationslücken
Der Remote-Kontext erzeugt ein Informationsvakuum an bisher ungewohnten Stellen: Bei gemeinsamer Arbeit im Büro erhält man implizit unterschiedliche Informationen. Sitzt eine Kollegin nicht an ihrem Platz, ist sie vermutlich in einem Meeting. Hat ein Kollege Kopfhörer auf, so möchte er gerade vermutlich konzentriert an etwas arbeiten. All diese Informationen fallen im Remote-Kontext weg. Diese Unsicherheit bietet Platz für gefährliche Spekulationen (sog. “Attributionen”). Ein Beispiel: Wenn ich nicht weiß, dass mein Kollege täglich um 14 Uhr eine Runde mit seinem Hund geht, werde ich seine Abwesenheit und verzögerten Antworten in diesem Zeitraum vermutlich negativer interpretieren, als wenn ich seine Tagespläne kenne. Eine Studie hat gezeigt, dass es eine wichtige Führungsaufgabe sein kann, diese Awareness füreinander im Team herzustellen3. So könnten beispielsweise morgendliche Meetings dafür genutzt werden, Verfügbarkeiten zu kommunizieren, Prioritäten zu klären oder klarzustellen welche Art von Nachrichten als wichtig zu behandeln sind.
Ein Modell zu Remote Leadership
Neben diesen ganz praktischen Herausforderungen müssen angesichts der Veränderungen auch Praktiken und Prozesse der Organisation auf den Prüfstand gestellt werden. Bisherige Führungsmodelle, wie sie beispielsweise in HR-Instrumenten verwendet werden, sind in den seltensten Fällen auf Aspekte von Remote Leadership ausgerichtet. Hier braucht es ein Modell der Führung, das auch den Remote-Kontext abdeckt.
Zum Präsenz-Kontext gibt es in der Wissenschaft bereits seit vielen Jahren etablierte Modelle der Führung, deren Wirksamkeit über viele Kontexte, Kulturen und Organisationen nachgewiesen werden konnte4. Wer sich mit Führungs- und Managementforschung beschäftigt, wird am Konzept der “transformationalen Führung” nicht vorbeikommen. Im Kern zielt transformationale Führung vor allem auf die intrinsische Motivation der Mitarbeiter:innen ab. Dabei geht die Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter:in über eine reine Austauschbeziehung (“Geld gegen Arbeitsleistung”) hinaus, sodass der/die Mitarbeiter:in durch Unterstützung, Inspiration usw. Ergebnisse über den Leistungserwartungen erzielen kann. Dieser Ansatz ist nicht unumstritten, gilt aber als ein etabliertes Modell von wirksamer Führung – zumindest in der Forschung. Wie so oft, wird dieses Modell aber in der Praxis von den wenigsten Organisationen tatsächlich als Anforderungsprofil oder Kompetenzmodell der Führungskräfteentwicklung verwendet.
Genau für diese Anwendung ist es aber essenziell ein gemeinsames Verständnis davon zu haben, was gute Führung im Remote-Kontext ausmacht. Eine Operationalisierung dieses Modells kann die Grundlage für verschiedene HR-Instrumente und -Initiativen sein. Neben der klassischen Führungskräfteentwicklung können diese Konzepte beispielsweise in Form von kontinuierlichen Surveys regelmäßig erhoben werden. Diese Einsichten liefern wiederum gute Ansatzpunkte für Führungskräfte, die eigene Führungsarbeit zu überprüfen und anhand von resultierenden Handlungsempfehlungen zu verbessern.
In der Suche nach einem nützlichen Konzept für Remote Leadership stellt sich daher nun die Frage ob die transformationale Führung auch auf den Remote-Kontext übertragen werden kann. Die Antwort ist ernüchternd: man weiß es nicht so genau. Es gibt sowohl Befunde, die dafür5, als auch Befunde, die dagegen sprechen6. Ganz generell lässt sich sogar sagen, dass die Wirksamkeit jeder Form von Führungsaktivität durch Distanz und zwischengeschaltete Kommunikationsmedien reduziert ist1.
Neue wissenschaftliche Erkenntnisse bieten aber gute Ansatzpunkte: Statt Zuschreibungen aufgrund von Statussymbolen, Charisma oder einnehmender Überzeugungskraft sind es die wirklich wirksamen Handlungen einer Person, die eine Führungskraft zur Führungskraft machen7. Ein Modell zu Remote Leadership sollte sich also auf Handlungen von Führungskräften beziehen. Hier lohnt sich ein Blick auf die Anfänge der Führungsforschung. Damals entstanden Konzepte der Führung, die – im Gegensatz zu Persönlichkeitstheorien der Führung – vor allem auf erlernbaren Handlungen beruhen. Eine gängige Einteilung definiert hierbei zwei Dimensionen8:
- aufgabenorientierte Führungsverhaltensweisen (Organisieren, Rollen verteilen, Delegieren,…)
- beziehungsorientierte Führungsverhaltensweisen (Unterstützen, um Wohlbefinden kümmern, auf Bedürfnisse eingehen,…)
Diese beiden Dimensionen der Führung passen sehr gut zu den Herausforderungen, die die Führungskräfte im Rahmen der Interviewreihe beschrieben. Das Aufrechterhalten des Kontakts zu den Mitarbeiter:innen ist im Wesentlichen ein beziehungsorientiertes Führungsverhalten. Ebenso ist das Klären von auftretenden Unsicherheiten bei Aufgaben ein Bestandteil der aufgabenorientierten Führung.
Dazu kommt, dass diese beiden Herausforderungen sich ebenfalls den zwei großen Problemklassen von Remote Work zuordnen lassen: “Isolation” und “Konfusion”. Diese beiden Begriffe wurden in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Remote Work als mögliche negative Folgen von Remote Work beschrieben. Die Aufgabe der Führung im Remote-Kontext ist es also, genau dort anzusetzen. Die beiden Dimensionen der aufgaben- und beziehungsorientierten Führung können also die Basis für eine Operationalisierung der Führung in Remote-Kontexten bilden9.
Im Rahmen der Interviews tauchten ebenfalls immer wieder Elemente der Führungsarbeit auf, die sich eher auf der Teamebene abspielen. Für 40% der Befragten waren Aspekte der Kooperation und des Zusammenhalts im Team eine der größten Herausforderungen. So beschrieben einige beispielsweise, dass die Verbundenheit der Teammitglieder untereinander wichtiger wurde, die Kooperation zwischen ganzen Teams in den Fokus rückte oder auch der Informationsfluss innerhalb und außerhalb des Teams betrachtet wurde. Betrachtet man die oben genannte Operationalisierung genauer, fällt auf, dass diese Komponente noch nicht gänzlich durch diese beiden Dimensionen abgedeckt ist. Für ein umfassendes Modell zu Remote Leadership sollten diese Aspekte allerdings einbezogen werden.
Damit ergibt sich für ein Modell der Führung eine Reihe von Faktoren, die im Remote-Kontext besonders wichtig sind. Gespeist aus den Erkenntnissen der Interviews sowie psychologischer Forschung der letzten Jahre, bilden diese Aspekte eine Grundlage für ein Modell der Führung im Remote-Kontext.
- aufgabenorientierte Führung
- beziehungsorientierte Führung
- teamorientierte Führung
Dieses Modell kann die Basis für eine Reihe von zentralen HR-Prozessen darstellen. Eine akkurate Erfassung wird unter anderem relevant in Feedback-Prozessen der Organisation, Transformationsvorhaben oder Entscheidungen im Talent Management. Insbesondere aber liegen große Chancen in einer gezielteren Führungskräfteentwicklung. So ist es beispielsweise möglich, Bewertungen der Führungsleistungen und Daten zu aktuellen Herausforderungen von Remote Work analytisch miteinander in Verbindung zu bringen. Führungskräfte sind so in der Lage, eigenverantwortlich die wichtigsten Stellschrauben für gute Führungsarbeit zu identifizieren und dahingehend Maßnahmen abzuleiten. Fortgeschrittene People Analytics-Tools können diese Prozesse unterstützen.
Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass die Gegebenheiten der “neuen Normalität” einige etablierte Dinge auf den Prüfstand stellen. Dennoch birgt die Auseinandersetzung mit Remote Leadership viele Ansatzpunkte für positive Veränderungen in Organisationen.
1 Hoch JE, Kozlowski SW. Leading virtual teams: hierarchical leadership, structural supports, and shared team leadership. J Appl Psychol. 2014;99(3):390-403. https://doi.org/10.1037/a0030264
2 Humanyze (2020): Technology Company Measures the Impacts of Remote Work to Drive Organizational Health
3 Cramton, C. D. (2002). Finding common ground in dispersed collaboration. Organizational Dynamics, 30, 356–367.
4 Northouse, P. G. (2014). Introduction to leadership: Concepts and practice. Sage.
5 Howell, J. M., Neufeld, D. J., & Avolio, B. J. (2005). Examining the relationship of leadership and physical distance with business unit performance. The Leadership Quarterly, 16(2), 273–285. https://doi.org/10.1016/j.leaqua.2005.01.004
6 Purvanova, R. K., & Bono, J. E. (2009). Transformational leadership in context: Face-to-face and virtual teams. The Leadership Quarterly, 20(3), 343–357. https://doi.org/10.1016/j.leaqua.2009.03.004
7 Purvanova, R.K., Charlier, S.D., Reeves, C.J. et al. Who Emerges into Virtual Team Leadership Roles? The Role of Achievement and Ascription Antecedents for Leadership Emergence Across the Virtuality Spectrum. J Bus Psychol (2020). https://doi.org/10.1007/s10869-020-09698-0
8 Ralph M. Stogdill (1974): Handbook of leadership: A survey of theory and research. New York, NY, US: Free Press
9 Liao, C. (2017). Leadership in virtual teams: A multilevel perspective. Human Resource Management Review, 27(4), 648-659.
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